FAZ, 05. April 2014, von Markus Huber
Richard Hayer erzählt vom Aufstand in Stanleyville
Seinem dritten Roman „Stanleyville“ stellt Richard Hayer einen Auszug aus Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ voran. Es geht darin um die Schrecken einer unheilvollen Vergangenheit, die „in Gestalt eines ruhelosen und schreienden Traums“ scheinbar wie aus dem Nichts aufsteigen – „hier unter der überwältigenden Wirklichkeit dieser seltsamen Welt der Pflanzen, des Wassers und des Schweigens“. Diese uns fremde und darum so seltsam erscheinende Welt ist Kongo, ein von Kolonialismus und Bürgerkrieg geschundenes Land, in dem bis heute furchtbare Armut und Gewalt herrschen.
An diesen von Gott und dem Rest der Welt verlassenen Ort verschlägt es die Ärztin Kim Lacquemont, doch anders als bei Conrads Seemann Marlow sind nicht Abenteuerlust und Sehnsucht nach dem Unbekannten Anlass für ihre Reise. Kim ist auf der Suche nach ihrer verschwundenen Nichte Calina, und alle Spuren weisen ausgerechnet nach Stanleyville, das heutige Kisangani, wo die Ärztin als Kind nur mit knapper Not ein Massaker der aufständischen Simba an der weißen Bevölkerung überlebte – unter dem Schutz einer mysteriösen Holzmaske, die plötzlich in einem verlassenen Parkhaus in Brüssel wieder auftaucht. Die Rückkehr nach Stanleyville setzt für Kim die Geister der Vergangenheit frei. Was sie über Jahre hinweg erfolgreich verdrängen konnte, bricht wieder ins Bewusstsein ein, wobei die „Gestalt eines ruhelosen und schreienden Traums“ ganz reale Folgen zeitigt. Das Erinnern an die traumatischen Erlebnisse im Jahr 1964 und Kims Recherche in Berichten, Aufzeichnungen und Dokumenten erlaubt es dem Roman wiederum, en passant die Geschichte Kongos zu erzählen und eine zweite Zeitebene zu eröffnen, die die Zustände im Hier und Jetzt in ein dunkleres Licht rückt. Ein weiterer Kontrast ergibt sich durch den Ortswechsel vom beschaulichen Belgien, wo die stickige Normalität jäh aus den Fugen gerät, als neben Calina noch weitere Jugendliche verschwinden, zur ehemaligen belgischen Kolonie, wo Elend und Wahnsinn Teil des Alltags sind. Hinzu kommen literarische Anspielungen, nicht nur auf Conrads „Herz der Finsternis“, sondern auch auf die Schriften Albert Schweitzers, an den die Figur des irren Urwalddoktors Maleingreau angelehnt ist.
Sich in diesem Dschungel aus Zeichen, ständig hin und her wechselnd zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, zurechtzufinden, stellt nicht nur Kim vor große Herausforderungen. Denn mit „Stanleyville“ entführt der 1947 auf einer Insel in der Ostsee geborene Richard Hayer den Leser nicht nur in eine fremde und exotische Welt, sondern stellt unter der Oberfläche eines spannenden Thriller-Plots auch Fragen nach Schuld und Verantwortung. Auch wenn aus der Mitte Afrikas kaum ein Mucks nach draußen dringt, ähnelt die Stille doch, wie es bei Conrad heißt, „in nichts dem Frieden“.