Seit 50 Jahren bin ich von Gebäuden fasziniert, die als Lost Places oder Ruinen die archäologische Untersuchung verflossener Lebensweisen und verschütteter Träume erlauben. 

Dazu werde ich später noch auf besondere Orte aus „Der schwarze Garten“ und auf Relikte eingehen, die in meinen anderen Romanen eine Rolle spielen – ob sie nun von kilometerdickem Eis der Antarktis bedeckt sind („Palmerland“) oder vom kongolesischen Dschungel überwuchert wurden („Stanleyville“). Meine erste Geschichte dazu ist 1976 in der Berliner Literaturzeitschrift LITFASS erschienen. Wenn ich sie jetzt wieder lese, entdecke ich ihre neue Aktualität.

Trotz ihrer Eigentümlichkeit scheint die Kultur im Guayali Tal der peruanischen Anden außerhalb der Fachwelt so gut wie unbekannt zu sein. Die folgenden Bemerkungen gehen auf eine Notiz in der Zeitschrift „Studien zur Baugeschichte Südamerikas“ zurück.

Entlang eines etwa 70 km langen, schiffbaren Abschnittes des Guayali-Flusses siedelte sich auf noch heute besonders fruchtbarem Boden eine der merkwürdigsten Kulturen des amerikanischen Subkontinentes an. Der genaue Zeitpunkt der Ansiedlung, sowie der Grund des seltsamen Verhaltens der Guayali-Leute werden sich nicht mehr ermitteln lassen; das unter den Chronisten und Wissenschaftlern Unstreitige reicht jedoch aus, ein grobes Bild dieser Gemeinschaft zu zeichnen, die beherrscht war von einer einzigartigen Religion: sämtliche Bewohner des Tales, nach vorsichtigen Schätzungen sieben- bis zehntausend, waren außerhalb ihrer handwerklichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit (für irgendeine nennenswerte Bedeutung der Jagd in dieser Gemeinschaft ergaben sich bisher keinerlei Anhaltspunkte) damit beschäftigt, Vergleiche anzustellen und Zusammenhänge zu sammeln.

Die ersten Generationen sammelten alles, was die Dinge ihrer Umgebung (Wald, Wasser, Menschen, der Himmel) an Ähnlichkeiten und Zusammenhängen hergaben. Man ließ die Betrachtungen durch besondere Schreiber aufzeichnen und bewahrte sie in einer Art Bibliothek auf. Leider ist aus dieser nicht das Geringste erhalten geblieben. Später ging man dann offenbar dazu über, diese Aufzeichnungen selbst in die Betrachtungen mit einzubeziehen, so dass man schließlich Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen zu sammeln begann (aus dieser Zeit liegen fassungslose Berichte eines Hofbeamten des Inka-Staates vor, in denen er z.B. erwähnt, dass man zu jener Zeit dort viel über das Verhältnis des die Pflanzen verbindenden Grün zum die Tiere und Menschen miteinander verbindenden Rot ihres Blutes sammelte und dieses mit Sonnenaufgang bzw. Sonnenuntergang in Zusammenhang zu bringen suchte). Von dieser Zeit an erst verfestigte sich der Brauch zu einer Religion, deren eifrigste Verfechter, die lange Zeit hin durch an der Macht waren, darin eine Lobpreisung des Kosmos sahen, die diesem an Größe schließlich nicht nachstehen werde.

Nach einer langen Zeit, aus der so gut wie keine Nachrichten existieren, tauchten Berichte auf über Auseinandersetzungen innerhalb der Priesterschaft, die Ordnung der Bibliothek betreffend. Mit jedem neu auftauchenden Gegenstand nämlich, sei es ein Kind, ein Stern, ein Werkzeug oder auch nur eine Wolke und mit jedem neu geäußerten Gedanken verschoben sich die Beziehungen zwischen allen bereits abgelegten Begriffen ergab sich jedes Mal eine Flut neuer, unvorhergesehener Zusammenhänge und musste jedes Mal von Neuem geordnet werden, so dass schließlich keinerlei endgültiges Ziel mehr erkennbar war.

Es darf vermutet werden, dass die anschließenden Kämpfe innerhalb der Priesterschaft auf diese Auseinandersetzung zurückgehen und die Entscheidung bringen sollten zwischen einer auf jedes endgültige Ziel verzichtenden Gruppe und einer für einen konsequenteren Weg dahin eintretenden. Der physische Sieg der zweiten Gruppe führte zu dem Bau eines Gebäudes, das in Ausmaßen, Form und Funktion in Südamerika nicht seinesgleichen findet. Es wurde etwa in der Mitte des bisherigen Siedlungsgebietes errichtet und beherbergte nach seiner Fertigstellung die gesamte Bevölkerung des Tales.

Wohl am besten wird es beschrieben als eine pyramidenförmige Stadt, in der sich unter einem Dach alles vereinigt fand, was die Gemeinschaft zum Leben brauchte, einschließlich einiger Bäume und zweier Quellen; Licht gelangte nur durch besondere Schächte ins Innere, die unter keinen Umständen den Blick auf die Umwelt oder den Himmel freigaben. Vor unerwünschten Veränderungen von außen schützten steinerne Tore, während vor Änderungen im Innern die Einführung eines strikten Rituals bewahrte.

Es gilt heute als erwiesen, dass der Bau dieses Gebäudes ausschließlich dem Bestreben entsprang, die Anzahl der äußeren Dinge zu begrenzen, um über die verbleibenden umso tiefergehende Betrachtungen anzustellen und das Dilemma der Zeit davor zu vermeiden. Eben diesem Zweck dienten auch das Ritual sowie die Vorschrift, nur solche Betrachtungen zuzulassen, die sich in irgendeiner Weise auf einen zu diesem Zweck in der Krypta aufbewahrten Stein bezogen. Unumgängliche Änderungen des streng geregelten Lebens wurden nur noch an zwei festen Terminen im Jahr vorgenommen:

gegebenenfalls bauliche oder liturgische Ergänzungen, die Benennung von Kindern ete. 84 Jahre nach dem Einzug brachte man einen weiteren Stein in die Krypta, den Plan verwirklichend, sich Schritt um Schritt dem Ziel einer vollendeten Beschreibung des Kosmos zu nähern. Nach 7 mal 84 Jahren setzte jedoch die Ankunft der spanischen Konquistadoren diesem Weg ein Ende. Der die Gruppe der Eroberer begleitende Priester Fernando Arrazola vermerkte 1537 in seinen Aufzeichnungen

,,… die Bewohner des riesigen Gebäudes kannten weder eine Schrift noch eine Sprache. Als wir sie ins Freie führten, wehrten sie sich verzweifelt und stießen wilde Schreie aus. Obwohl sie im eigentlichen Sinne sehen konnten, bewegten sie sich noch nach Tagen in dem Tal, als seien sie blind. Es schien ihnen alles so fremd, daß es ihnen nichts als Qualen bereitete. Drei Wochen brachten wir damit zu, das Gebäude für alle Zeit unbrauchbar zu machen. Es kostete uns wertvolle Zeit.“

Wer Genaueres wissen möchte über das Gebäude im Tal des Guayali, mag in der erwähnten Zeitschrift nachschlagen, wo sich eine Anzahl emphatischer Schilderungen der Eigenschaften dieses Gebäudes aus den Federn verschiedenster Wissenschaftler findet.