Die Rebellion der Simba kehrt zurück

Die Welt, 30. November 2002 von Ulli Kulke

Mitten im Dschungel steht Kim Lacquemont auf einer Schlammpiste und gräbt mit einem dicken Stock das Erdreich auf. Nach einer halben Stunde und einem knappen Meter stößt sie auf Asphaltbrocken. Ein Zeitsprung um knapp fünf Jahrzehnte, in eine Epoche, in der es hier, in der östlichen Bergregion des Kongo, noch Infrastruktur gab, Eisenbahnen, Straßen, Fabrikanlagen.

Kim ist die Hauptfigur in Richard Hayers neuem Thriller „Stanleyville“. Die Brüsseler Ärztin ist auf der Suche nach ihrer eigenen Kindheit und taucht deshalb ein in die Region und die Jahre, in der einer der bizarrsten Kriege Schwarzafrikas geführt wurde: Die Simba-Rebellion Mitte der 60er-Jahre, der Aufstand der Löwen, wie Simba auf Suaheli heißt. In Stanleyville, dem Zentrum der damaligen Rebellion, fahndet Kim nach Spuren, die sie zu ihrer entführten Tochter führen sollen.

Es war Anfang der 60er-Jahre, als das kleine Belgien seine riesige Kongo-Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Zunächst wurde sie daraufhin vom linken Patrice Lumumba regiert. Später, nach einem Putsch, vom westlich orientierten Moise Tschombe, gegen den die Simba dann zu Felde zogen, unterstützt von der UdSSR und China. Vom Osten her, dem Hinterland, versuchten sie, den Kongo aufzurollen. Fast ausschließlich mit Macheten und Speeren bewaffnet, aber von Medizinmännern mit Amuletten ausgestattet, die feindliche Kugeln in Wasser verwandeln sollten. Da nicht nur sie selbst an diesen Spuk glaubten, sondern auch die Truppen der Zentralregierung in Leopoldville, konnten die Simba fast den gesamten Osten erobern, einschließlich der Dschungelmetropole Stanleyville. Als belgische Offiziere und die US-Luftwaffe eingriffen, zwangen die Rebellen 1500 Europäer in Stanleyville als Geiseln in das Victoria-Hotel.

Aus Berichten ihrer Mutter muss Kim schließen, dass auch sie damals als Kleinkind, vor fast 50 Jahren, zusammen mit ihrer Familie Geisel der Simba-Rebellen war. Dort, wo sie den Asphalt aus der Tiefe des Waldbodens ans Licht brachte, war ihre Mutter zuvor in einer riesigen Großforschungsanlage mitten im Dschungel an einem Programm zur Bekämpfung der Malaria beschäftigt.

Hayer, „Welt“-Autor, der seine Spannung gern aus solchen Zeitsprüngen generiert und dessen Ullstein-Roman „Visus“ 2011 als Zweiteiler bei RTL lief („Expedition Arche Noah“), würzt sein Dschungelbuch mit Schamanismus, mit Drogen, Gift und Gegengift, mit Kindersoldaten, auch mit dem scheinbar normalen Alltagsleben in Brüssel heute. Das Motto, das er dem Buch voranstellt, ist einem Roman des Mannes entnommen, der für jene Gegend Afrikas die Spannung quasi erfand, Joseph Conrad, und soll andeuten, dass unerklärliche Rückblicke eine Rolle spielen. „Es gab Augenblicke, da die eigene Vergangenheit vor einem aufstieg in Gestalt eines ruhelosen und schreienden Traums, an den man sich verwundert erinnerte – hier unter der überwältigenden Wirklichkeit dieser seltsamen Welt der Pflanzen, des Wassers und des Schweigens.“ Es stammt aus Conrads „Herz der Finsternis“, das ja irgendwo nahe Stanleyville liegen soll.

Menschen verschwinden in Hayers Roman, nicht nur Kims Tochter. Auch in Brüssel lässt der Autor in der heutigen Zeit Heerscharen von Kindern verloren gehen. Gibt es Verbindungen nach Afrika?

Als Henry Morton Stanley – nach seiner berühmten, erfolgreichen Suche im Urwald nach David Livingstone – jenes Stanleyville auf einer Insel im Kongo-Fluss gründete, lag dort das Herz des Menschenraubs: das Hauptquartier des berüchtigtsten aller Sklavenhändler, Tippu-Tip. Noch heute ist der Osten des Kongo über weite Strecken ein rechtsfreier Raum.

Auch Kim, Hayers Heldin, war hier gefangen, 1964. Nur langsam kann sie sich zusammenreimen, wie sie damals freikam.

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