Berliner Morgenpost, 15. März 2023 von Ulli Kulke
Berlin. Wer vor der Villa am Müggelseedamm steht, Hausnummer 10, am besten nachts, kann sich die Situation aus dem Thriller gut ausmalen. Irgendetwas tut sich dort drinnen. Nur oben brennt Licht. Dabei steht das Haus seit Jahren leer. Eine schlanke Gestalt scheint sich hinter dem Fenster langsam zu bewegen. Und vorhin, direkt unterm Dach, hatte es nicht durch die Baumkronen durchgeschimmert, als mache sich jemand an einem der winzigen Fenster zu schaffen?
Das großzügige Anwesen direkt an der breiten Müggelspree, das jetzt zur Kulisse eines fantastischen Romans wurde, ist eines der markantesten im Berliner Südosten. Es steht seit Jahrzehnten leer, mit 18 Zimmern, auf einem überwucherten weitläufigen Parkgrundstück mit 9500 Quadratmetern. 1874 wurde es für den Bankier Carl Miether errichtet, vom Architekten Eduard Titz, der auch das Deutsche Theater gebaut hatte. 1877 wurde sie Residenz des russischen Botschafters Baron Paul von Oubril.
Ein Jahr später, als nach dem russisch-türkischen Krieg der „Berliner Kongress“ unter Vorsitz von Reichskanzler Bismarck die Landkarte Südosteuropas neu ordnete, gab der Baron in der Villa rauschende Feste für die diplomatische Welt. Mancher Trinkspruch wurde dabei auch auf die neue Rolle des Reiches im Konzert der europäischen Großmächte ausgebracht.
Heute stehen am Klingelschild zwei Nachnamen, ein Ehepaar aus der Berliner Gesellschaft, sie die Chefin eines großen privaten TV-Senders. Im Jahr 2006 haben die beiden die Liegenschaft von der BVG erstanden, der sie nach mehreren Eignerwechseln vor, während und nach dem Krieg über die Ost-Berliner Verkehrsgesellschaft 1990 zugefallen war. Seither dämmert sie im Koma, am Leben gehalten offenbar allein vom Denkmalschutz. Richard Hayer hat den geheimnisvoll anmutenden Bau mit Patina jetzt wachgekitzelt und aktiviert – als Hauptkulisse seines fesselnden Romans „Der schwarze Garten“, der im Heute spielt.
Die Gestalt, die der Roman-Autor da nachts durch die verlassene Villa heimlich streifen lässt, ist in seiner Handlung die Besitzerin selbst: Ellen, eine junge Astrophysikerin, erfolgreich auf der Jagd nach „Roten Zwergen“. Ebenso wie heutige Eigner eines solchen Anwesen im wahren Leben weiß auch sie nicht recht, was sie mit dem Gebäude anfangen soll, alles zu teuer, die Renovierung schon gar. Ein paar Wochen lang hat sie deshalb für Unsummen den kompletten Bau an eine Filmcrew verpachtet, ist selbst in ihre Remise hinten im Park gezogen. Ein nahe liegender Gedanke. Auch die real existierende Villa war wegen ihres nostalgischen Charmes mehrmals Drehort. In den 1990ern zum Beispiel für den „Hauptmann von Köpenick“ mit Harald Juhnke. Auch Hildegard Knef soll hier gemimt haben.
Ellen – im Buch – darf während des Drehs, wie dies üblich ist, ihr eigenes Haus nicht mehr betreten, bei sechsstelliger Konventionalstrafe . Sie tut es aber, nachts, heimlich. Weil sie langsam aber sicher vermutet, dass da eigentlich ganz andere Dinge geschehen als Schauspielerei, und die Kameras, Klappen und Scheinwerfer nur Staffage sind. „Ihr eigenes Haus kam ihr vor wie ein fremdes Traumobjekt, nur mit endlosen Anstrengungen zu erreichen wie ein völlig unbekannter Berggipfel, der atemberaubende neue Übersicht zu gewinnen versprach.“ Das Geräusch eines Motorbootes nähert sich. Ellen muss abbrechen, aus ihrer eigenen Villa flüchten…
Die junge Frau beginnt eine Odyssee auf ihrer Suche nach der eigenen Herkunft, ihren Eltern, ihren Großeltern. Sie führt ins Dunkel der Sowjet-Forschung an chemischen Kampfstoffen in Usbekistan. Damit – über Umwege – auch zu dem in den 30er-Jahren berühmten Berliner Gestaltpsychologen Kurt Koffka, der damals länger in Moskau weilte, jetzt in der Rolle von Ellens Großvater.
Hayers „Der schwarze Garten“ ist ein „Berlin-Thriller“ aus Fleisch und Blut. Er vermag es, neben jener Villa Dutzende weitere reale, teils bekannte Schauplätze der Stadt, öffentliche wie private, mit seiner Dramaturgie zu füllen. Darunter manche, die dem „Atlas der unheimlichen Orte“ entsprungen sein könnten. Etwa das alte Stadtbad Lichtenberg in der Hubertusstraße, ein 1920er-Jahre-Bau, seit Jahrzehnten außer Betrieb, Quell schwarzer Phantasie. Hayer hilft uns, diesen verlockenden Freiraum mit Schauder zu füllen, aus dem Keller, „der Maschinenwelt eines gestrandeten Dampfers“, bis hinauf unters Dach, das ungeahnte Ausblicke generiert. Oder: Wer etwa das markante backsteingotische Künstlerhaus St. Lukas in der Fasanenstraße am Zoo aus dem Bahn- Fenster kennt, darf nun mit Ellen im Innern seine Abenteuer erleben.
Die Story mischt reale Begebenheiten mit Parallelwelten. Seine 600 Seiten füllt der Autor mit einer für Krimis oder Thriller ungewöhnlichen Fülle an Details ganz am Rande des Geschehens, die scheinbar lapidar daherkommen – aber gerade dadurch dem Leser das Gefühl geben, als säße er mittendrin. Auch das wahre Leben ist schließlich nicht auf einen Handlungsstrang fokussiert. Und ein Weiteres erzielt diesen mitreißenden Effekt: Man spürt es erst nach einigen Seiten, aber dann ist klar: Was im Kopf der Hauptdarstellerin genau vorgeht, selbst wenn sie uns ihre Gedanken offenbart, gibt Rätsel auf. Es liegt dies nicht an zu flüchtigem Lesen. Erst Ellens regelmäßig eingefügte Rückblicke fügen vielmehr das ganze Puzzle zusammen, wie auch unser Alltag von den Erinnerungen lebt. Die Geschichte hinter der Geschichte, die auch brutal daherkommt, wohldosiert. Auch der alte KGB mischt noch mit.
Die Rückblicke zählen zum Stärksten des Buches. Ihre farbige, lebendige Dreidimensionalität resultiert aus Hayers ausgedehnten Reisen in die Ruinenlandschaften geheimer Stätten aus Sowjetisch-Mittelost. Dorthin, wo einst ganz real, fernab der Weltöffentlichkeit im Kalten Krieg die Chemie-Cocktails für die ABC-Waffen entwickelt wurden. Ellens Eltern steckten damals mittendrin, als Forscher und als Versuchskaninchen. In unseren Tagen sind diese Orte, wie Nukus Usbekistan etwa, bis in die 70er-Jahre auf einer Insel inmitten des nun längst verschwundenen Aral-Sees gelegen, nur noch einsame Geisterstädte. Wüste, Hitze, Durst, Verlorenheit. Dort wohnt keiner mehr, geht keiner mehr seinen monströsen Aufgaben nach – oder? Hayer verunsichert uns da ein wenig. Doch seine Ellen führt uns immer wieder zurück nach Hause, zur Villa in Köpenick, nach Berlin.
Der Roman bietet eine komplexe Handlung mit vielen Protagonisten und mehreren Ebenen, von der sich der Leser bisweilen spielerisch ein wenig verwirren lässt. Ein dickes Buch. Man bleibt dennoch drin, unweigerlich, entkommt nicht. Wie in einem Traum – der dann, am nächsten Abend, wiederaufgenommen wird. „Der schwarze Garten“ ist der vierte Roman des Autors. „Visus“, sein zweiter, wurde von RTL unter dem Titel „Arche Noah“ 2011 verfilmt. Hayer ist sein Aliasname. Im wahren Leben ist der promovierte Physiker und Wissenschaftssoziologe Manager eines deutschen Weltkonzerns.