Freitag, 26. Juni
Kim Lacquemont erwachte mit der Karte eines Taxiunternehmens in der Hand. Es war sieben Uhr, und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie sie gestern Nacht nach Hause gekommen war. Je genauer sie darüber nachdachte, desto deutlicher tat sich ein Loch von einigen Stunden auf.
Sie schlug die Bettdecke mit dem blassblauen Blütenmuster zurück und sprang auf. Farben in hellen Mustern, schoss es ihr durch den Kopf, wie komme ich immer wieder zu der unbeschwerten Schmetterlingswelt eines kleinen Mädchens? Mit Bedacht setzte sie ihre Schritte. Der Fußboden war mit Reisegepäck, Impfbescheinigungen, Pass und Flugtickets übersät.
Sie streckte sich in ihrem blassroten Schlafanzug, der blassrot gepunkteten Jacke über blassrot karierter Hose aus einem warmen weichen Baumwollstoff, und legte eine CD mit Klaviertrios von Mozart in ihre Stereoanlage. Als es an der Tür klingelte, warf sie sich einen Mantel über.
Mit den Spediteuren, die kamen, um die Praxiseinrichtung ihrer verstorbenen Mutter abzutransportieren, strömte ein Schwall frischer Sommerluft ins Haus. Der Chef der Truppe, ein massiger Mann von fast siebzig Jahren, der einen altmodischen Filzhut wie angewachsen auf dem Hinterkopf trug, trat als Letzter ein.
Eine Weile blieb Kim vor der Rückseite ihres Hauses in Ukkel stehen. Noch war die Luft frühlingshaft warm, bald würde es unter dem strahlend blauen Himmel so heiß werden wie all die Tage zuvor. Achtunddreißig Grad im Schatten waren keine Seltenheit, jedermann in Brüssel ächzte unter der staubtrockenen Hitze. In den Straßen sah man Passanten, die sich Mineralwasserflaschen über den Köpfen entleerten, manche unternahmen leichtsinnige Aktionen auf den Dächern ihrer Häuser, doch die meisten Menschen bewegten sich schneckenhaft träge in ihren abgedunkelten Wohnungen. Kim erschien es wie ein Menetekel, dass ausgerechnet jetzt, kurz vor ihrer Abreise auf die Antillen, tropische Glut Einzug hielt. Als wollte eine höhere Macht sie zwingen, es sich noch einmal zu überlegen. Ein weißer Mercedes mit Weißwandreifen, Baujahr 1976, rollte vor ihr aus.
Kim hatte den ehemaligen Kollegen ihrer Mutter, der die Praxiseinrichtung übernehmen und das Verpacken beaufsichtigen wollte, erwartet. Mit festem Händedruck begrüßte sie einen großen Mann, in dessen Gesicht unter einem dichten weißen Haarschopf sich auffallend fröhliche Augen bewegten. Kim führte ihn zu den Umzugsarbeitern im Haus und ging dann in ihr Bad. Unter der Regendusche öffnete sie den Mund und trank, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Sie sehnte sich danach, etwas anderes als heißes Wasser auf ihrer Haut zu spüren. Warum war Warren jetzt nicht in ihrer Nähe? Jetzt, wo sie ihn verdammt noch mal brauchte.
Das Wasser ließ ihre Haare im Nacken zusammenfließen. Sie liebte Warren. Selten gestand sie es sich ein, vor allem aber liebte sie die Distanz. Was ihr zu nahe kam, erdrückte sie, aber wenn sie sich allein gelassen fühlte, belebte sich ihr Innenleben mit unerträglichen Ameisenvölkern unruhiger Ideen. Wie wollen wir auf diesem schmalen Grat gemeinsam ein Haus bewohnen?
Eine Musik war in ihrem Ohr, ein melancholisches Lied, das sie gestern gehört haben musste, gesungen von einer Frau. Weder konnte sie sich an den Text noch an die genaue Melodie erinnern, mehr als eine harmonische Wehmut in ihrem Kopf war davon nicht übrig geblieben.
Plötzlich traf es sie wie ein Schlag ins Genick. Der Betonboden zu ihren Füßen war mit Dingen bedeckt, die in flackerndem Licht schwarzen Schildkröten glichen. Herden großer, wie abgewetztes Leder glänzender, regloser Tiere.
Kim schaffte es, den Kaltwasserhahn ihrer Dusche aufzudrehen. Der Schwall verscheuchte die Illusion. Sie stand sicher auf dem weißen Fliesenboden der Dusche. Was war das? Erinnerungen an die letzte Nacht? Unmöglich. Was sie soeben gesehen hatte, war zu abstrus und surreal. Ein Albtraum, Nachwirkungen eines Films. Vielleicht die Panik vor dem aufwändigen Renovierungsprogramm des alten Hauses, das sie sich vorgenommen hatte.
Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam.