Die Welt, 30. November 2002, Was es doch alles gibt!
Richard Hayer verwandelt unglaubliche Nachrichten in einen aktuellen Antarktis-Thriller
von Ulli Kulke
Richard Hayer hatte Glück, gleich zwei Mal. Da gräbt der gelernte Physiker, als er vor Jahren seinen Krimi plante, eine wissenschaftliche These aus, aufgestellt 1966 von dem amerikanischen Einzelgänger Charles H. Hapgood: In der Steinzeit vor rund 12 000 Jahren hätten Menschen aus einer Hochkultur bereits die Antarktis bereist und besiedelt. Eine bizarre Behauptung, die aber immerhin nachvollziehbar ist anhand einer Weltkarte aus dem Jahr 1513. Was Hayer nicht wusste: Wenige Tage vor dem Erscheinen seines Buches „Palmer Land“ in diesem Jahr kam auch Hapgoods Werk „Die Karten der alten Seefahrer“ (Eichborn, Frankfurt/M., vgl. „Literarische Welt“ v. 16. November) auf deutsch heraus. Das „Buch zum Buch“, der wissenschaftliche Begleiter, ist also schon da.
Das Jahr 2002 meinte es allerdings auch weiter gut mit Autor Hayer. Denn er flocht in sein Erstlingswerk auch noch wundersame Geheimnisse um den Südschacht der Cheops-Pyramide ein, der zwar seit 1993 bekannt ist, aber ausgerechnet in diesem September, kurz nach Erscheinen, eine Fernsehnacht lang die Abenteuerwilligen unter den Bundesbürgern wach hielt quasi die „TV-Show zum Buch“. Wundersame Aktualität umrankt Hayers Buch, in dem es immerhin um Jahrzehntausende geht.
Der Antarktis-Thriller ist ein Kriminalroman mit kosmohistorischem Untergrund. Trotz fantastischem Handlungsstrang passt er weder ins Fach Däniken noch ins Science-Fiction-Regal, sondern spielt im Hier und Jetzt und rund um die Welt. Ash Kenelly, ein britischer Baumanager, übernimmt ein Projekt in der Antarktis. Es geht um revolutionäre, per Satellit fernzusteuernde Kleinkraftwerke. Gegen seinen Willen muss er die Kinder seines schweizer Auftraggebers mitnehmen. Der Sohn wird in einer verlassenen russischen Forschungsstation entführt, Ash und die Tochter müssen sich bei der Suche nach ihm mit unglaublichen Vorgängen befassen: Klimaforscher waren ganz in der Nähe bei ihren Bohrungen durch kilometerdickes antarktisches Eis ganz unten auf Beweise für frühere Besiedlungen gestoßen aus der Zeit, da es dort noch grün und warm war. Und Angestellte der Schweizer Firma waren am Südpol zuvor Opfer finsterer russischer Mordanschläge mit schwerstem Gerät geworden. Ash wird klar, dass mehr als das Leben der drei gefährdet ist in diesem Spannungsverhältnis zwischen den Jahrzehntausenden. Passend findet eine Art Halbzeit-Showdown denn auch in den Gängen der Pyramiden von Giseh statt.
Hayer, ausgestattet mit Sinn für Dramaturgie, ist als gelernter Physiker ganz offensichtlich fasziniert von den technischen, weltumspannenden Allmöglichkeiten heutiger und vergangener Zeiten zwischen Realem, Fantastischem und Unerklärlichem. Hier streut er jene Teilchen ein, die aus dem Weltall auf die Erde prallen und auf der gegenüberliegenden Seite ankommen, und da tauchen auf einmal jene „Ekranoplane“ wieder auf, die die Sowjets Jahrzehnte lang vor der US-Aufklärung geheim halten konnten: Flugtransporter für halbe Armeen, die dreimal so groß wie Jumbo-Jets in nur fünf Meter Höhe über die Weltmeere jagen konnten. Und so weiter. Doch keine Angst, lieber Leser, es fügt sich alles.
Und dennoch: Etwas weniger wäre auch in diesem Fall mehr gewesen. Fast gewinnt man den Eindruck, Hayer habe die komplette Ablage seiner Zeitungsausschnitte „Interessantes und Unglaubliches“ in seine erste Belletristik verwandeln wollen, aus der Furcht, nie wieder so viel Zeit für ein zweites Buch zu finden. Dass der in Diensten eines deutschen Großkonzerns stehende und reisende Autor rund um die Welt Jahre lang recherchiert hat, nimmt man ihm nach der Lektüre des 600-Seiten-Schmökers ohne weiteres ab, und deshalb gehört das Buch zu denen, die man mit dem Gefühl wieder in den Bücherschrank stellt, unter Spannung auch etwas gelernt zu haben. Wahres und Fantastisches.